By martin Auch die innere Entwicklung des Menschen verläuft stufenweise und macht — einzelne genial veranlagte Menschen ausgenommen — keine auffallend raschen Fortschritte. Man muss vielmehr lernen, Geduld mit sich selbst zu haben. Ein sicherer Höhepunkt ist dann erreicht, wenn ein Mensch ganz natürlich und ohne Anstrengung darauf verzichten kann, an sich selbst zu denken und alles unwillkürlich nach dem Maßstab seines Wohlbefindens und Behagens zu beurteilen, sich vielmehr nur als den Diener einer großen Idee betrachtet. Das nennt die Heilige Schrift einen »Knecht Gottes.“

Jes 49 1–6 Jes 50 4–9

Die Menschen, die selbst nach ganz anderen Prinzipien leben, haben doch oft das Gefühl, dass es solche Andersgeartete geben müsse, auch einen fast untrüglichen Instinkt für die Echtheit und Unechtheit dieser Gesinnung. Es kommt wohl in den religiös ausgerichteten Kreisen selber vor, und zwar öfters, dass Leute, die noch tief im Egoismus stecken, bereits als »Knechte des Höchsten“ angesehen werden; mir ist dagegen kein einziges Beispiel bekannt, wonach die Welt sich über einen solchen Menschen getäuscht hätte.

Man tut daher sehr gut daran, bei auffallenden Erscheinungen nicht-weltförmiger Art auch dem Urteil der weltförmigen Leute ein erhebliches Gewicht beizulegen.

(aus Carl Hilty: »Für schlaflose Nächte“, Leipzig/Frauenfeld 1908)

von: Carl Hilty